„Ho-Ho-Ho.“ Wütend schwang Hermann Kronstadt die Glocke. „Ho-Ho-Ho.“
Verdammte Schäfers! Hermanns „Ho-Ho-Ho“ klang geradezu bedrohlich. Ohne dieses Pack hätte er das Ganze hier nicht nötig gehabt. Weihnachtsmann in diesem Gedränge! Doch wie hätte er sonst den Anwalt bezahlen sollen bei seiner kleinen Rente. Nicht genug, dass dieses Pack seine wunderbare Ruhe störte, weil es das Haus mit Kindergetrappel und lauter Musik verpestete, nein, auch die Blautanne in dem kleinen Innenhofgarten wollten sie gefällt haben. Dabei war es Rosis Baum. Hermann hatte sie noch zusammen mit ihr gepflanzt. Die Tanne war alles, was ihm geblieben war, nachdem Rosi …“
„Ho-Ho-Ho.“ Hermann schwang die Glocke.
Elsie hatte das gewusst und sich nur über die Tanne beschwert, aber nie etwas dagegen unternommen. Wegen Rosi, auch wenn sie das nie gesagt hatte. Doch Elsie war jetzt weg, einfach so. Tim war gekommen und hatte die Wohnung ausgeräumt und renoviert. Nun wohnten die Schäfers da und die hatten ihn wegen der Tanne verklagt. Sie musste gefällt werden und Hermann konnte sehen, wie er die Gerichtskosten zusammenbekam.
Verdammte Schäfers! „Ho-Ho-Ho!“ Verdammte Schäfers!
Einige Passanten sahen ihn verwundert an und machten einen Bogen um ihn.
Es war nasskalt und windig, in den kahlen Zweigen der Straßenbäume schaukelten die Lichterketten und rund um Hermann drängten sich die Menschen, die Hände voller Einkaufstüten. Hermann wünschte, er wäre zu Hause, in der Wärme und Abgeschiedenheit seiner Wohnung. „Ho-Ho-Ho.“
Ein kleines Mädchen zupfte an seinem roten Mantel. „Bist du der richtige Weihnachtsmann?“, fragte es.
„Nein, ich tue nur so“, knurrte Hermann.
Die Mutter der Kleinen sah ihn stirnrunzelnd an.
„Was?“, raunzte Hermann.
Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel, wie Herr Voigt aus der Drehtür des Kaufhauses kam. Prompt beugte er sich zu der Kleinen, holte eines der Bonbons hervor, die er zu diesem Zweck in seiner Manteltasche hatte, und flötete: „Hier, meine Kleine, tut mir leid, aber ich bin nur der Gehilfe. Der echte Weihnachtsmann ist da drinnen, oben in der Spielzeugabteilung.“
„Danke“, sagte die Kleine artig und zerrte ihre Mutter auf den Eingang zu.
Herr Voigt trat zu Hermann und klopfte ihm auf die Schulter. „Sehen Sie, Herr Kronstadt, immer schön freundlich, dann kommen wir bestens miteinander aus.“ Noch ein Klopfen, dann verschwand er wieder im warmen Inneren.
„Ho-Ho-Ho.“ Hermann schwang die Glocke. Wenigstens hatten sie ihm Skiunterwäsche aus der Sportabteilung spendiert.
Als er nach Hause kam, war die Blautanne weg. Nur noch den Stumpf und einen Haufen Sägemehl konnte er im trüben Licht der Hoflampe erkennen. „Ach, Rosi“, dachte er, als er die Balkontür wieder schloss. Jetzt hatte er nur noch ihr Bild, das mit einem Trauerflor versehen auf dem Vertiko stand. Alle waren weg, zuerst Gottfried, der mit Elsie und Tim in der Wohnung unter ihnen gelebt hatte. Krebs. Dann Tim, der zum Studieren nach Süddeutschland ging, dann Rosi, vor acht Jahren schon, die einfach so eines Morgens tot neben ihm im Bett gelegen hatte. Hirnschlag, hatte der Arzt gesagt. Und im Frühjahr dann Elsie. Irgendwann hatte der Notarzt sie abgeholt und sie war nie zurückgekehrt. Tim hatte nur einen Brief unter Hermanns Tür durchgeschoben, dass sie jetzt bei ihm in Stuttgart lebte. Wahrscheinlich war Elsie doch ziemlich böse auf ihn gewesen, dass sie nicht selber schreiben mochte. Na ja, wenn er ehrlich war, hatte er seit Rosis Tod nicht mehr viel mit ihr zu tun haben wollen. Immerzu beschwerte sie sich über die Tanne.
Aber zum Gericht war sie nicht gegangen. Elsie nicht.
Er ging in die Küche und schmierte sich sein spätes Abendbrot. Gerade, als er sich mit dem Holzbrettchen und einer Bierflasche in seinen Sessel setzte und den Fernseher einschaltete, läutete es.
Was sollte das? Das konnten doch nur die Schäfers sein, die wieder irgendwas zu meckern hatten. Wütend klappte Hermann die Fußstütze seines Sesels hoch. Er hatte nach diesem Tag seine Ruhe verdient, jawohl!
Es läutete ein zweites Mal.
Hermann drehte den Fernseher ein wenig lauter. Ha, das hatten sie wohl kapiert! Die Türklingel blieb jetzt still.
Doch dann klopfte es. Direkt an der Wohnungstür. „Herr Kronstadt?“, fragte eine Männerstimme.
Das war nicht der Schäfer. Hermann schaltete den Ton weg.
„Herr Kronstadt, bitte machen Sie auf“, kam es dumpf von der anderen Seite der Wohnungstür. „Ich bin es, Klaus Sander, Sie wissen schon, der andere Weihnachtsmann von oben aus der Spielwarenabteilung. Ich bringe Ihnen etwas, das Sie vorhin vergessen haben.“
Hermann schaltete den Fernseher aus. Woher wusste der Kerl, wo er wohnte?
„Herr Kronstadt, bitte, ich weiß, dass Sie da sind.“
Also schön. Hermann stemmte sich aus seinem Sessel. Umso schneller wurde er den Typen los. „Ja?“, sagte er unfreundlich, als er die Wohnungstür einen Spalt öffnete.
Sander trug noch immer seinen roten Anzug mit dem schwarzen Gürtel und den Stiefeln unter dem Mantel. Nur die Mütze hatte er durch einen altmodischen Hut und Ohrenklappen ersetzt. In beiden Händen hielt er ein, wie es schien, schweres Paket, eingeschlagen in rötliches Fleischerpapier und verziert mit dem Emblem des Kaufhauses und einer grüngoldenen Schleife. Sander streckte es Hermann entgegen. „Hier, eine kleine Weihnachtsgratifikation. Sie waren vorhin so schnell weg, dass man sie Ihnen nicht mehr geben konnte.“
„Was ist das?“ Hermann war so überrascht, dass er vergaß, den Türspalt mit seinem Körper zu versperren.
Sander nutzte das und schob sich in die Wohnung. „Es muss möglichst schnell in den Kühlschrank. Soll ich es in die Küche bringen?“
„Was ist das?“, wiederholte Hermann und verfluchte sich, dass er zu neugierig war, um den Typen wieder aus der Wohnung zu werfen.
„Lassen Sie uns in die Küche gehen“, sagte Sander.
Das Paket entpuppte sich als Weihnachtsgans. Hermann starrte darauf, dann auf Sander, der Hut und Mantel ablegte und jetzt mehr denn je wie ein echter Weihnachtsmann aussah. „Was soll ich damit“, fragte Hermann.
Sander spreizte eine der fleischigen Keulen der Gans ab. „Aus der Feinkostabteilung im Keller. Das Beste, was man kriegen kann, sage ich Ihnen. Dagegen sind diese gefrorenen Vögel aus Polen der reinste Dreck.“ Er deutete auf Hermanns Bierflasche, die dieser immer noch in der Hand hielt. „Kann ich auch eine kriegen?“
Automatisch ging Hermann zum Kühlschrank und öffnete eine weitere Flasche, ehe ihm einfiel, dass er den Typen ja loswerden wollte. Aber jetzt war es zu spät, das Bier war schon offen. Er reichte Sander die Flasche. „Haben Sie meine Adresse vom Kaufhaus?“, fragte er.
„Ja, ja“, sagte Sander und setzte sich auf einen der beiden Stühle an dem kleinen Tisch. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei irgendetwas Wichtigem.“
Hermann zuckte mit den Schultern und lehnte sich an die Küchenzeile.
Sander deutete mit der Bierflasche. „Sie sollten die Gans wirklich in den Kühlschrank tun.“
Hermann sah auf den Vogel hinunter. „Ich weiß doch gar nicht, was ich damit anfangen soll. Ich weiß nicht, wie man ihn brät, und ich bin allein. Können Sie ihn nicht gebrauchen?“
Sander lächelte, dass seine roten Apfelbäckchen seine Augen zu kleinen Halbmonden zusammenschoben und sein buschiger, weißer Bart sich dort ein wenig teilte, wo der Mund sitzen musste. „Nein, nein“, sagte er. „Das ist Ihrer. Ich bin ganz sicher, Sie werden schon eine Verwendung dafür finden.“
Genau in diesem Augenblick läutete es wieder. Sander grinste.
Hermann war so verdattert, dass er einen Augenblick gar nichts machte. Er sah Sander an.
„Wollen Sie nicht öffnen?“, fragte der.
Also ging Hermann zur Tür.
Davor stand, sehr verlegen, Frau Schäfer. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht“, sagte sie.
„Doch, ich habe Besuch“, knurrte Hermann. „Und der Baum ist weg, Sie haben also alles, was Sie wollten.“
„Genau deswegen bin ich hier“, sagte sie. „Wir wussten nicht, dass der Baum eine Erinnerung an Ihre Frau war. Tante Elsie hat uns erst heute Nachmittag davon erzählt, als wir sie zu Weihnachten angerufen haben. Aber da war der Baum gerade weg. Sie hat furchtbar mit Nils geschimpft und hat darauf bestanden, dass wir uns wenigstens bei Ihnen entschuldigen.“
„Elsie ist Ihre Tante?“, fragte Hermann erstaunt.
Frau Schäfer nickte. „Ich bin die Jana, Onkel Hermann.“
„Jana!“ Hermann erinnerte sich an ein kleines Mädchen mit Zöpfen, für das Elsie mal ein paar Kleider genäht hatte, als es zu Besuch war. Damals hatte Gottfried noch gelebt.
„Und warum haben Sie nichts davon gesagt?“, knurrte Hermann.
„Wir haben uns nicht getraut. Sie waren von Anfang an so …“ Jana zuckte mit den Schultern, „na ja, so zugeknöpft. Wir hatten das Gefühl, Sie wollten mit uns nichts zu tun haben.“
„Und warum hat Elsie nichts erzählt?“
Jana sah ihn an. „Konnte sie doch nicht. Nach dem Schlaganfall hat sie eine Weile gebraucht, bis alles wieder einigermaßen funktionierte. Und Sie haben sich ja auch nicht gemeldet.“
Hermann nickte. Das stimmte. Er war sauer gewesen, dass sie so ohne Abschied verschwunden war. Aber da seit Rosis Tod ihr Verhältnis sowieso immer schlechter geworden war, hatte er das für das natürliche Ende gehalten. „Wie geht es Elsie?“, fragte er.
„Sie kann inzwischen wieder sprechen und lässt Sie herzlich grüßen. Wenn Sie sie anrufen wollen, gebe ich Ihnen gerne ihre Nummer.“
Plötzlich kam Hermann ein Einfall. „Wissen Sie schon, was Sie an Weihnachten essen?“, fragte er.
Jana zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich Kartoffelsalat und Würstchen.“
„Also“, sagte er und holte tief Luft. Um Elsies willen, dachte er. „Ich habe gerade von da, wo ich im Augenblick arbeite, eine riesige Weihnachtsgans geschenkt bekommen. Vielleicht können Sie ja etwas damit anfangen.“
Janas Augen wurden groß. „Eine Gans? Aber das kann ich doch nicht annehmen.“
„Ich würde sie nur wegwerfen müssen.“ Hermann öffnete die Tür weit. „Warten Sie einen Moment, ich hole sie.“
Als er in die Küche kam, hatte Sander schon wieder Hut und Mantel an. Die leere Bierflasche stand auf dem Tischchen.
„Ich habe jemanden gefunden, der mir die Gans abnimmt“, sagte Hermann.
„Das ist gut.“ Sander lächelte wieder sein Weihnachtsmannlächeln. „Und ich werde mich jetzt verabschieden.“ Er folgte Hermann zur Wohnungstür. „Auf Wiedersehen, Frau Schäfer“, er tippte an seine Hutkrempe, „und danke, dass Sie mich ins Haus gelassen haben, damit ich diesem“, er boxte Hermann kameradschaftlich gegen die Schulter, „diesem Griesgram seine Gans bringen konnte. Doch wie ich sehe, bekommen Sie sie jetzt.“
Draußen im Treppenhaus drehte er sich noch einmal um. „Bis morgen, Kollege, und danke für das Bier. Wissen Sie, Frau Schäfer, wenn unser Hermann hier mal vergisst, dass er wütend auf die ganze Welt ist, kann er ein wunderbarer Weihnachtsmann sein. Vielleicht denken Sie ja mal darüber nach.“ Noch einmal tippte er sich an die Hutkrempe und polterte dann die Treppe hinunter.
Hermann drückte Jana verlegen die Gans in die Hände.
„Weihnachtsmann?“, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. „Irgendwie muss ich die Anwaltskosten ja zusammenkriegen.“
Am Nachmittag vor Heiligabend ging Schäfers Wohnungstür auf, gerade als Hermann müde die Treppe hinaufstieg. Sein Kostüm schleppte er diesmal mit, weil Voigt es nur gereinigt zurücknehmen wollte.
Jana stand in der Tür, dahinter, etwas unsicher, ihr Mann. Der Duft nach gebratener Gans drang in den Hausflur. „Onkel Hermann“, sagte Jana, „O, entschuldigen Sie, Herr Kronstadt …“
„Ist schon in Ordnung“, brummte Hermann.
Jana lächelte. Und ihr Mann sagte: „Bitte, Herr Kronstadt. Es tut mir auch sehr leid. Hätte ich gewusst, wie viel Ihnen der Baum bedeutet … Tante Elsie war richtig wütend, als sie davon gehört hat.“
Etwas passierte mit Hermann. Vielleicht war es der Gänsebratenduft oder die Weihnachtsmusik bei Schäfers, vielleicht aber auch die vielen Kinder, die sich in den letzten beiden Tagen ein Bonbon von ihm abgeholt hatten. Und Voigt hatte ihm auf die Schulter geklopft und gesagt: „Vielleicht kommen Sie ja nächstes Jahr wieder, Herr Kronstadt. Sie sind gar nicht so brummig, wie ich gedacht habe.“
Hermann sah Nils Schäfer an und war zum ersten Mal nicht wütend auf den Kerl. „Stimmt schon, der Baum hat Ihre Wohnung dunkel gemacht“, brummte er. „Elsie hat auch darüber geklagt.“ Damit schickte er sich an, weiter zu seiner Wohnung hinaufzusteigen.
„Bitte warten Sie“, sagte Jana. „Bitte kommen Sie für einen Moment herein. Bitte, Onkel Hermann.“
Die Schäfers lächelten ihn an und gaben die Tür frei.
„Was soll’s“, dachte Hermann und ging die beiden letzten Stufen wieder hinunter. Zum ersten Mal seit drei Jahren betrat er wieder die Wohnung, die einmal Elsie und Gottfried gehört hatte. Alles sah etwas anders aus, heller und frischer, aber es gab auch einige Möbel, die er kannte, den großen Garderobenschrank im Flur und den Esstisch mit den Lederstühlen im Wohnzimmer. Darauf standen drei Kaffeegedecke und ein aufgeschnittener Stollen, so, als hätten die Schäfers mit seinem Kommen gerechnet.
„Kaffee?“, fragte Jana und schenkte ein. „Wissen Sie, es ist so, wir möchten Sie heute Abend zu uns einladen. Weil, es ist doch eigentlich Ihre Gans. Und auch wir können sie nicht allein schaffen. Wir haben gedacht, vielleicht versöhnt Sie das ein bisschen, wenn Sie mit uns Weihnachten feiern. Und der Baum, na ja“, sie deutete auf die Zimmerecke, wo bereits eine geschmückte Blautanne stand, „ist eigentlich auch Ihrer. Das da ist die Spitze. Es ist also nicht nur Ihre Gans, mit der wir Weihnachten feiern, sondern auch Ihr …“
„Nein, es ist Rosis Baum“, sagte Hermann. Er blickte von Jana zu ihrem Mann und zurück. „Und wo sind die Kinder?“
„Mit meiner Mutter beim Krippenspiel in der Kirche. Wenn sie zurückkommen, ist Bescherung“, sagte Nils. „Sie würden uns wirklich eine große Freude machen, wenn Sie dabei sind.“
„Bitte, Onkel Hermann“, sagte Jana.
„Nein.“ Hermann stand auf.
Erschrocken erhoben sich die Schäfers ebenfalls.
Hermann grinste, was sich ein wenig ungewohnt anfühlte. „Ich mache die Bescherung“, sagte er und deutete auf den Kleidersack mit seinem Kostüm. „Die Bescherung macht immer der Weihnachtsmann, ist doch klar.“
In dieser Nacht träumte Hermann, wie Klaus Sander zu ihm kam, ihm auf die Schulter klopfte und sagte: „Na, geht doch, du alter Griesgram.“
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