Es ist diese ganz besondere Farbe: Azur. Die Häuser gleichen einem zerklüfteten Geröllfeld in der Ferne, gefärbt durch Kubikkilometer Luft. Schnurgerade, nachtschattige Straßen schneiden durch sie wie ein Stern, in dessen Zentrum das Monument leuchtet. Weiß strahlt es aus dem Blau, doch seine Schatten spiegeln die Farbe der Welt. Kein Grün tut dem Auge wohl, kein Rot unterbricht die monochrome Szenerie. Die Welt ist blau, blau, sternförmig, blau.
Ich stehe hoch oben und blicke hinunter auf die Stadt. Blue city, cité bleu. Meine Hände sind fleischfarben, wie es sich gehört, mein Pullover flaschengrün. Nur die Jeans zeigen sich in Indigo, jedoch nicht in Azur. Hier hat das Blau noch nicht die Macht übernommen.
Wie es wohl sein wird, dort unten? Langsam mache ich mich auf den Weg den Turm hinab, nehme die Treppe und nicht den Fahrstuhl. Ich möchte nicht den Moment verpassen, wenn alle anderen Farben ausgelöscht werden. Die Streben und Gitter des eisernen Turms wurden rostrot gestrichen. Meine Schuhe sind braun.
Der Moment kommt, als die Treppe sich in eine der vier Stützen des Turmes windet. Eine Gitterstufe zeigt noch das Rostrot, die nächste schon Azur. Ich setze einen Fuß darauf und mein brauner Schuh bekommt dieselbe Schattierung. Dann färben sich meine Jeans um, mein flaschengrüner Pullover. Und das Blau meiner Hände schimmert in einem ganz besonderen Schmelz.
Als mein Gesicht hineintaucht, nehme ich ihn zum ersten Mal wahr, diesen Geruch, metallisch mit einer gewissen Schärfe, irgendwie blau wie alles andere. Können selbst Gerüche eine Farbe besitzen?
Ich steige weiter hinab und bald verliert sich das Aroma. Oder habe ich mich nur daran gewöhnt? Egal.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, sich durch das Blau zu bewegen. Unten auf der Straße ist alles wie immer, allerdings verhüllt durch azurne Schleier. Man könnte meinen, dass sie das Vorankommen behindern, doch die Luft leistet wie gewöhnlich kaum Widerstand. Nur wenn ein blaues Auto auf der blauen Straße an mir vorbeirauscht, zerzaust ein blauer Windhauch mein blaues Haar.
In einem Straßencafé setze ich mich unter die blau gestreifte Markise. Aus dem Schatten heraus beobachte ich blauhäutige Menschen, die an mir vorüberhasten. Der Kellner mit dem azurnen Hemd bringt einen nachtfarbenen Kaffee. Ich versuche einen Schluck und erwarte einen metallisch-scharfen Geschmack. Wie das Blau, das ich vorhin gerochen habe. Doch der Kaffee schmeckt wie immer, bitter, würzig, süß vom Azurzucker.
Plötzlich schiebt sich Geraldine in ihrem königsblauen Kleid durch die Tischreihen auf mich zu. Ich weiß, es besitzt tatsächlich diese Farbe, erst gestern habe ich es bei ihr auf dem Bügel hängen sehen. Aber ihre blonden Haare wirken jetzt wie bei allen anderen so, als habe der Friseur etwas Kreatives ausprobiert. Es harmoniert gut mit ihrem blauen Teint.
Sie setzt sich zu mir. „Schön, dich hier zu treffen“, sagt sie. Sogar ihre Stimme klingt irgendwie blau: kühl, ohne jenes warme Timbre, das ich einst an ihr geliebt habe. Man sagt, Blau wirke beruhigend. Bei mir jedoch stellt sich der gegenteilige Effekt ein.
„Du bist blau“, sage ich zu Geraldine.
„Wie bitte?“ Sie sieht mich wütend an. „Ich habe heute noch keinen Tropfen getrunken, damit du es weißt.“
Mist. Seit ich sie eines Tages als Alkoholikerin beschimpft habe, reagiert sie allergisch auf solche Äußerungen. „Das meine ich nicht“, versuche ich meinen Fauxpas zu retten. „Deine Haut ist blau, deine Haare, alles. Die ganze Welt ist blau. Ich war vorhin oben auf dem Turm. Dort war alles normal, aber hier unten …“ Ich zucke mit den Schultern.
Sie starrt mich an, als würde sie ein Alien sehen. „Hast du sie nicht mehr alle?“, giftet sie.
Ich mache eine weit ausholende Geste. „Siehst du es denn nicht? Die Autos, das Straßenpflaster, das Laub an den Bäumen … Welche Farbe zum Beispiel hat das Kleid des kleinen Mädchens dort drüben?“
„Blau“, sagt Geraldine wie aus der Pistole geschossen.
„Siehst du?“
Sie beugt sich vor und funkelt mich an. „Und du glaubst, das sei ein Beweis? Kleine Mädchen tragen nun mal blaue Kleider. Ich habe auch eines an, wie du sehen kannst.“
„Ich weiß“, sage ich. „Ich kenne es. Und heute harmoniert es ganz wunderbar mit deinem Teint.“
Ihre blaue Hand sehe ich nicht kommen, aber plötzlich fegt sie mein Gesicht ein Stück zur Seite. Meine Wange brennt von dem Schlag. „Das ist dafür, dass du meine Lieblingsfarbe nicht magst“, faucht sie. Dann sorgt ihre andere Hand für Symmetrie. „Und das für den unglaublichen Schwachsinn, den du verzapfst.“ Sie steht so heftig auf, dass ihr Stuhl in die blaue Eisportion auf dem Nachbartisch kippt. Ohne auf die Proteste zu achten, drängt sie sich durch die Tische und ist verschwunden, bevor ich ganz begreife, was gerade passiert ist.
Doch dann verstehe ich. Mit ihr geht das Blau. Mein Pullover ist plötzlich wieder flaschengrün.
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